Markus Unschlitt:

die Tage danach

Zwei Klopftöne! — Pause — Ein Klopfton! — Pause — Zwei Klopf töne! Unser Signal!

Wir hatten es verabredet für den Fall, daß wir dringend miteinander sprechen wollten. Ich klappte das Heft zu und riß das Fenster auf.

„Der von der Kripo ist da“, sagte Sylvie atemlos.

„Rasch — erzähl!“

„Er sitzt bei uns im Wohnzimmer und trinkt mit Jumbo Cognac. Die Pfeile und unsere roten Hähne liegen vor ihnen auf dem Tisch. Sie haben schon nach Fingerabdrücken gesucht und wundern sich jetzt, daß keine drauf sind. Müßten eigentlich welche drauf sein, behauptet der Kripomann — welche von Sönderup, von den Nachbarn, von Jumbo... Verstünde er nicht, sagte Jumbo. Der andere konnte es sich auch nicht erklären. Du, ich hab’ ‘ne ganze Weile vor der Tür gestanden und gelauscht, hab’ aber nicht alles mitbekommen und behalten können, was die beiden beredet haben. Von dir haben sie auch gesprochen. Aber Jumbo hat nichts Schlechtes über dich gesagt, Markus. Bestimmt nicht! Er wurde sogar ziemlich grantig, als ihn der andere über dich ausquetschen wollte — du weißt schon… Sagte, er wünschte, daß es überhaupt keinen Brandstifter gäbe — , besonders keinen aus Tarrafal. Zwischendurch bin ich mal rein gegangen und hab’ mir von Jumbo Geld für einen Zeichenblock geholt. Dabei hab’ ich mir den Mann angeschaut — du, gegen meinen Vater ist der ein Zwerg. Jetzt muß ich schnell noch den Zeichenblock besorgen. Wollte dir nur zuerst Bescheid sagen.“

„Danke“, sagte ich.

„Tschüs“, sagte sie.

Da wunderten sich zwei, daß sie keine Fingerabdrücke fanden — ich nicht! Sylvie hatte sie abgewischt, und das war ihre Idee gewesen. Sie redete mir ein, die Fingerabdrücke müßten weg, danach würde immer zuerst gesucht. Von Jumbo hatte sie gehört, daß diese Abdrücke eine Art Visitenkarte wären — so als hätte man seinen Namen mit Adresse zurückgelassen. Ich sollte mir keine Sorgen machen — sie würde das für mich tun. Wo die Schlüssel hingen, wüßte sie.

Alles in Ordnung! versicherte mir Sylvie einen Tag später auf dem Schulhof. Sie hätte die Pfeile und Karten gründlich mit einem Lappen abgerieben.

Jumbo Tackert sagte nichts Schlechtes über mich. Und wenn er zehnmal Polizist war.

Ich rede sonst nicht darüber: Vor etwas über einem Jahr habe ich Sylvie aus dem Wasser geholt! Im letzten Augenblick, bevor es zu spät war.

Das hatte sich auf der Anlegebrücke in Nordermarsch zugetragen, einem baufälligen Holzsteg an der Bucht, zwei Kilometer nordwestlich von Tarrafal. Mein kleines Boot lag da an der Boje vertäut. Ich wollte nachsehen, ob das Wasser schon über den Bodenbrettern stand. Die vergangenen drei Tage hatten viel Regen gebracht. Sylvie und ich trafen uns zufällig. Drei dicke Damen in prallgefüllten Hosen standen auch noch auf der Brücke. „Wundervoll“, sagten sie zu den Wellen, die mit Schaum im Maul gegen die Brücke anstürmten. „Wie niedlich“, sagten sie zu den Möwen, die ihnen mit heiserem Geschrei die Brotstücke aus den Fingern rissen. Nicht niedlich — gefräßig waren die Biester. Sylvie turnte ziemlich leichtsinnig auf den Pollerköpfen herum. Ich bin sonst kein Kindermädchen; aber ich warnte trotzdem: „Paß auf, daß du dir keine nassen Klamotten holst.“ — „Paß du auf dich selber auf, Markus Unschlitt!“ bekam ich zur Antwort. Da konnte man nichts machen. Dann mußte ich dringend austreten; ich hatte es mir schon zu lange verkniffen. Als ich wieder aus dem Holzhäuschen herauskam, hörte ich das Geschrei schon von weitem: „Hilfe! Hilfe!“ Zwei von den Dicken rannten wie unklug auf dem Brückenende herum. Die dritte kam mir entgegengekeucht. „Sie kommt nicht wieder hoch! Ich rufe den Rettungswagen.“ Sylvie! Ich ahnte, was sich zugetragen hatte und sprintete los. „Wo?“ fragte ich nur und hatte schon die Schuhe herunter, bevor mir zwei Hände zugleich die Stelle zeigten. Ich hechtete ins Wasser. Springflut und Wind hatten so viel Wasser durch das Nordtief gedrückt, daß es einen Meter über Normal vor der Brücke stand. Die Wellen rührten den Schlick auf, und als ich die Augen aufriß, sah ich kaum etwas in der trüben Brühe. Ich konnte tauchen wie ein Seehund, lange untenbleiben. Vater hatte mir beigebracht, wie man langsam die Luft abblasen muß. Ich fand sie nicht, tauchte auf, atmete durch, sog neue Luft in die Lungen. Über mir starrten zwei Masken aus weit geöffneten Augen — stumm. Ich rollte nach vorn über und tauchte mit dem Kopf zuerst weg. Diesmal fand ich Sylvie sofort. Sie hing unter einem von diesen verdammten Querbalken halb hinter dem Poller und wurde von den Wellen hin und her geschaukelt. Ich zerrte! Ich bekam sie nicht los! Irgendwo hakte das Kleid. Die Luft wurde mir knapp — ich mußte noch einmal nach oben. Aber beim dritten Versuch schaffte ich es. Ich packte sie unter den Armen, stemmte mich mit den Füßen vom Balken ab, zog, riß sie los. Sollte das Kleid zum Teufel gehen! Sie war leicht an die Wasseroberfläche zu bringen, hing schlaff wie eine Stoffpuppe in meinen Armen. Ich mußte sie um den Brückenkopf herumziehen nach hinten an die flache Böschung; denn nur dort konnte ich sie an Land schaffen. Es war nicht leicht, bei dem Wellengang. Die beiden Dicken warteten auf mich und halfen mir, Sylvie über die Steinböschung zu ziehen. „Blut!“ schrien beide. Und dann sah ich es auch — rot quoll es aus Sylvies rechtem Oberarm hervor! Der ganze Arm war blutverschmiert. Sie mußte sich beim Sturz an einem Nagel verletzt haben; die Balken und Poller waren ja voll von diesen gefährlichen Fleischhaken. Ich zog mein Turnhemd aus und würgte es um die Wunde. Dann versuchte ich das Wasser aus Sylvie herauszuschütteln und begann danach ihre Arme auf und nieder zu pumpen. „Der Wagen muß gleich da sein“, sagte die dritte Frau. Hoffentlich! Sylvie wollte sich nicht bewegen, schlug die Augen nicht auf. Ich wußte nicht, was ich sonst tun sollte und die Frauen auch nicht. Herausholen hatte ich sie können — jetzt lag sie da... Dann kam der Unfallwagen mit zwei Sanitätern. „Wie lange war das Mädchen im Wasser?“ fragte einer. Ich wußte es nicht. „Nicht mal vier Minuten“, antwortete eine von den beiden Frauen, die auf der Brücke zurückgeblieben waren. Ich ging weg. Ich konnte nicht mitansehen, wie sie an ihr herumhantierten. Aber sie holten Sylvie ins Leben zurück — mit dem Pull-Motor, glaub ich. Dann schoben sie die Bahre in den Wagen und fuhren ab. Später erfuhr ich, daß Sylvie auch noch eine Beule am Kopf hatte; sie mußte unten irgendwo aufgeschlagen sein und die Besinnung verloren haben. Die drei Dicken schnatterten und pumpten mich in dem Strandcafe mit heißem Kaffee voll. — Vom Landrat bekam ich eine Belobigung und ein Buchgeschenk. Jumbo Tackert schenkte mir neue Segel für mein Boot. Und Sylvie... Seit der Geschichte trafen wir uns öfter.

Und seitdem hatte ich bei Jumbo Tackert einen Stein im Brett, den so leicht keiner wegrollte.

Es war eine gute Idee von mir, den Pappkarton zur Tarnung auf Sellmers Schuppendach zu stellen. Nach dem Brand lagen überall so viele Dinge verstreut, daß ein Pappkarton auf einem Schuppendach nicht sonderlich auf fiel. Dahinter lag ich auf der Dachpappe, und die feuchte Kälte kroch durch die Kleider bis an meinen Bauch heran. Das Genick tat mir weh. Ich hielt den Kopf schon fast zehn Minuten lang steif im Nacken, um den Mann durch das kleine Loch im Karton zu beobachten. Wie ein Badegast sah er nicht aus. Fast alle Gäste waren in Schwärmen abgezogen, und mit ihnen verschwanden ihre Autos und Pudel. Ich hatte diesen Mann noch nie zuvor in Tarrafal gesehen. Also Kriminalpolizei!

Sylvies Beschreibung stimmte. Er war klein und mager. In seinem grauen Mantel sah er einer frierenden Nebelkrähe ähnlich. Den Kragen hochgeschlagen, die Hände in den Manteltaschen, stand er lange Zeit auf einem Fleck und starrte mit rundem Rücken auf die verräucherten Reste, die das Feuer übrigließ.

Er stand vor Sönderups Hintertür — da, wo diese einmal gewesen war. Jetzt gab es nur noch eine eingestürzte Mauerlücke, und durch das Loch zeigte ein verkohlter Balkenrest wie ein schwarzer Zeigefinger zu David Küppers’ Haus hinüber. Ich wußte, wie es an dieser Stelle ausgesehen hatte. Zu oft war ich um Peter Sönderups Haus herumgestrichen. Die Hintertür bestand aus zwei Hälften; man konnte beide zusammen oder sie auch einzeln öffnen. Unten hatte der Tischler ein rechteckiges Loch eingeschnitten, damit die Hauskatze kommen und gehen konnte, wie es ihr paßte. Peter Sönderup würde nicht mehr auf der unteren Tür lehnen und den Zigarrenrauch in die Gegend blasen. Und Sönderups Kater konnte nicht mehr ins Haus, weil es kein Haus und kein Katzenloch mehr gab.

Glaubte der Mann, daß sich aus den Trümmern ablesen ließ, was wirklich geschah? Und wenn er noch tagelang hier stehenblieb — der Schutthaufen erzählte ihm nichts! Hageldorns Kastanie konnte nicht reden.

Und ich wollte nicht reden.

Die Kastanie hatte mir ein halbes Jahr lang gute Dienste geleistet. Nun brauchte ich sie nicht mehr. Um diese Jahreszeit bot sie nur noch bei Nacht ein gutes Versteck. Zu viele ihrer Blätter klebten, von Autoreifen festgewalzt, auf der Straße oder hingen zerlumpt in den Heckenrosen, und nur ein paar klammerten sich noch an die Zweige. Tagsüber war Anton Sellmers Schuppendach das bessere Versteck. Ich brauchte mich nur auf dem sanft abfallenden Pappbelag langzumachen, dann verbarg mich eine niedrige, dreiseitige Brüstungsmauer. Von oben konnte man mich nicht entdecken; denn nach der Seite zum Schuppen hin zeigte Sellmers Haus keine Fenster. Wenn ich’s vorsichtig anfing, erreichte ich den Platz auch bei Tag, ohne daß mich einer sah. Ich nahm den Kliffweg, kletterte bei dem halbblinden Kapitän Sievers über den Wall, rannte durch seinen verwilderten Garten an den Südwall, und wenn sich niemand zeigte, schräg über die Straße in Sellmers Garten. Dort drückte ich mich hinter die kleine Holzlaube und wartete ab. Minna Sellmer schusselte häufig im Garten herum. Zuletzt mußte ich noch eine kleine Strecke hinter den Johannisbeerbüschen entlangkriechen, bis an die Wallecke — , dann auf den Wall und mit einem Sprung aufs Dach.

Alle unsere Häuser ducken sich hinter hohen Steinwällen. Und alle Bäume verbeugen sich nach Osten, weil der Westwind sie dazu zwingt. Nur Hageldorns Kastanie hält den Rücken gerade — die schafft der Wind nicht.

Jetzt drehte sich der Mann einmal um sich selbst, schaute zu Küppers hinüber, dann zu Hageldorn, zu Sellmer...

Er kam an der verkohlten Buchsbaumhecke entlang auf mich zu. Unwillkürlich schloß ich das Auge. Unsinn! Das Loch im Karton war nur knöpf groß. Mein Auge sah er bestimmt nicht.

Vor dem Schuppen schwenkte er nach rechts ab. Einen Augenblick sah ich sein Gesicht von der Seite — eine große Nase in einem kleinen Gesicht. War er klug oder schlau? Verstand er sein Fach? Ob er einen Revolver in der Manteltasche trug?

Er entfernte sich wieder von mir, wich den Trümmern aus, hielt an, bückte sich, schwankte weiter...

Ich mußte grinsen. Aber nicht über ihn. Mir fiel plötzlich ein, was Anton Sellmer da unter meinem Bauch in seinem Schuppen gelagert hatte: Gerümpel! Aus dem Leim gegangene alte Stühle, rostige Kutschenlaternen, Urgroßmutters Blumentöpfe und Petroleumfunzeln, verschimmelte Pferdegeschirre, eiserne Bügeleisen, die man früher mit Kohlenglut fütterte. Das alles trug Sellmer von Dachböden und aus Schuttkuhlen zusammen und stapelte es in seinem Schuppen auf. Im Winter machte er sich darüberher, wusch den Dreck ab, kratzte, flickte, bürstete, pinselte und — im Frühjahr waren Antiquitäten draus geworden. Dann brauchte er nur noch auf den Schwarm der Badegäste zu warten und ihnen unverschämte Preise zu nennen — die wollten es nicht besser. Ich selber hatte gesehen, wie einer von ihnen Anton Sellmer für eine alte Positionslaterne die Geldscheine nur so in die Hand rieseln ließ. Geld wie Dreck mußten die Leute verdienen, denn wie mit Dreck gingen sie damit um.

Der Mann nahm die Hände aus den Hosentaschen und klaubte irgend etwas aus dem Schutt, rieb daran herum, drehte das Ding in den Händen.

Was mochte er gefunden haben? Ich konnte den Gegenstand aus der Entfernung nicht erkennen. Mein Fernglas hatte ich nicht dabei, weil sich damit schlecht durch ein kleines Loch schauen ließ.

Er stand da, wo Peter Sönderup so oft hinter dem Fenster in die Nacht hinausschaute.

Ob ihm der Birnbaumstumpf aufgefallen war?

Der Birnbaum...

Jetzt war nur noch ein Stumpf vorhanden. Aber noch bis spät in den Juli hinein war es ein Birnbaum gewesen, der frühe und viele Früchte trug. Zuerst wollte ich dem Alten in einer Nacht alle Birnen klauen. Aber wie sollte ich diese Fracht transportieren? Und wohin mit den Birnen? Verschenken konnte ich sie nicht, und außer Sylvie und Tante Lene traute ich niemandem zu, daß er den Mund halten konnte.

Mein zweiter Plan war besser.

In einer windigen Nacht wickelte ich unseren großen Fuchsschwanz in meinen Bademantel, setzte die Pudelmütze auf und stieg aus dem Fenster. So liefen die Kinder der Gäste auch noch spätabends herum. Ein paar knallharte Regenschauer hatten die Spaziergänger in die Zimmer oder in die Autos getrieben. Motorengeräusch war günstig für das, was ich vorhatte, und nasse Kleider nahm ich in Kauf. Ich kam ungesehen in Sönderups Garten. Die Schlafzimmerfenster gingen auf die andere Hausseite hinaus. Ich zwängte meinen Rücken in die Buchsbaumhecke hinein; so brauchte ich nur den Arm auszustrecken, um die Säge hin- und herzuziehen. Jedesmal, wenn sich die Autos bei Dirksen um die scharfe Ecke tasteten, strichen die Lichtfinger ihrer Scheinwerfer über mich hinweg. Und wenn dann die Motoren im ersten Gang aufheulten, machte ich, daß ich mit meiner Sägerei vorankam. Über eine Stunde mußte ich aushalten mit gekrümmtem Rücken und feuchter Kleidung. Dann zog ich das Sägeblatt aus dem Schnitt, wickelte die Säge in meinen Bademantel ein, bog meinen Rücken gerade und verabschiedete mich mit einem kräftigen Stoß. Als Sönderups

Birnbaum auf die Erde krachte, war ich schon an der Buchsbaumhecke vorbei, nahe an Sellmers Schuppen. — Der Mann warf weg, was er in der Hand gedreht hatte. So wichtig konnte der Fund nicht gewesen sein.

Hoffentlich verschwand er bald! Mein linker Arm war eingeschlafen, und Kopf und Auge konnte ich nur noch vor dem Guckloch halten, wenn ich die Zähne zusammenbiß. David Küppers!

Er machte sich an den Kriminalbeamten heran, sprach auf ihn ein. Sie redeten lange miteinander. Ich konnte kein Wort von ihrer Unterhaltung verstehen, obwohl ich mir alle Mühe gab. Sie redeten über mich... bestimmt!

Sie trennten sich.

Sie gaben sich nicht die Hand.

Ich hätte diesem Küppers auch nicht die Hand gegeben, wenn ich der Kriminalbeamte gewesen wäre.

Der Mann im grauen Mantel verließ Sönderups Grundstück, schwenkte nach rechts ein und noch einmal nach rechts. Er kam den Weg zwischen Sönderup und Hageldorn herauf.

Vor Hageldorns — vor meiner Kastanie blieb er stehen.

Hob den Kopf, betrachtete die Baumkrone.

Immer noch...

Und jetzt den langen Ast...

Wußte er das von Vater? Hatte Jumbo Tackert es ihm erzählt?

Er trat nahe an den Steinwall heran, lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

Er nahm die Hände aus den Taschen. Er riß ein Streichholz an, das sofort wieder erlosch. Nicht genügend Zündmasse, oder eins von den mickrigen Stäbchen, die abbrechen, sobald man mit ihnen an der Reibfläche entlangfährt. Noch ein Streichholz... Die Zigarette glühte auf.

Er blies den Rauch auf die Brandstelle zu.

Zwei rote Hähne waren aus der Kastanie abgeflogen und hatten sich auf Sönderups Dach gesetzt. Der dritte Hahn kam nicht durch die Luft geflogen. Er wurde in das Dach gesteckt — ganz einfach mit der Hand...

Du zielst schon richtig, dachte ich.

Und dann gab es in der Brandnacht einen glühenden Punkt etwas größer als seine Zigarettenglut. Wenn er davon wüßte und noch ein bißchen mehr, könnte er bald abreisen...

Er stieß sich vom Wall ab, ging bis zur Straßenmitte. Drehte mir den Rücken zu, machte ein paar Schritte rückwärts, als könnte er sich nicht vom Anblick der Kastanie trennen. Dann wendete er mir wieder sein Gesicht zu und marschierte los. In Richtung Kliff. Er verschwand aus meinem kleinen Guckloch, und ich versuchte gar nicht erst, den Karton mitzudrehen. Als ich den Kopf vorsichtig an der Seite vorbeistreckte, sah ich gerade noch, wie sein Hut an der Brüstungsmauer untertauchte.

Im selben Augenblick rutschte ich vom Dach, nahm mir unten noch die Zeit, meine Arme und Beine gründlich auszuschlenkern. Zwei Minuten Vorsprung konnte ich ihm geben. Ich wußte Abkürzungen genug, um ihn überall rechtzeitig wieder in Sicht zu bekommen.

Von Sellmers Nordwall aus sah ich seinen Rücken wieder. Er schlenderte nicht wie ein Badegast; er schritt tüchtig aus, wie jemand, der sein Ziel kennt. Die Richtung stimmte. An der T-Kreuzung mußte er nach rechts abbiegen und geradeaus über die nächste Kreuzung gehen — dann kam er an unserem Haus vorbei. Vielleicht hatte Jumbo ihm den Weg beschreiben müssen.

Ich machte, daß ich durch Kapitän Sievers’ Querweg den Kliffsteig erreichte; der lief wie ein kleiner dünner Bruder neben der Straße her. Auf die Weise konnte ich meinen Mann wie ein Schatten begleiten.

Und wenn ich mich nun verrechnete? Wenn er in den zweiten Querweg einbog? Dann mußten wir zusammenprallen! Und was wäre dabei? Nichts! Er kannte mich ja noch gar nicht, hatte mich nie gesehen.

Er ging geradeaus. Geradeaus bedeutete: zu mir! Warum glaubte ich das so sicher? Hatte ich Angst vor seinen Fragen? Ja, ich hatte Angst! Denn es gab noch eine Menge, was ich mir gut überlegen mußte!

Ich rannte schneller, überrannte beinahe eine Frau in langen roten Hosen, die mir entgegentrödelte. Ich stürmte bei Bäcker Franzen in den Feldweg hinein und kam mit Seitenstechen hinter Lene Steenkamps Haus wieder heraus.

Ich wühlte mich in die Reetgarben hinein, zupfte mir einen Spalt zum Durchschauen zurecht. Die Kreuzung konnte ich übersehen und Tante Lenes Hausfront. Wenn ich den Kopf ein wenig drehte auch unsere hintere Gartenpforte. Aber er klopfte bestimmt nicht an die Hintertür; er würde den Vordereingang nehmen wie Mutters Kunden.

Warum kam er nicht? War er umgekehrt?

Er ließ sich mehr Zeit, als der Weg erforderte, wenn einer so ausschritt wie er.

Die Warterei regte mich auf.

Gewiß hatte er meinen Namen schon in den ersten zwei Stunden gehört. Ganz Tarrafal flüsterte ihn.

Ich begann zu wünschen, daß er erst morgen käme. Oder besser übermorgen...

Mutter... Würde sie ohnmächtig werden, wenn sie die Tür öffnete und einer sagte: „Ich möchte Ihren Sohn sprechen, Frau Unschlitt — Kriminalpolizei!“

Er kam immer noch nicht um die Ecke.

Sobald er die Kreuzung geradeaus überquerte, mußte ich schnell durch unsere Hintertür ins Haus flitzen. Vielleicht konnte ich ihn an der Vordertür abfangen, bevor Mutter dazukam.

Meine Hände wurden feucht.

Ein verdammter Halm stach mir in den Nacken. Ich rutschte in dem engen Käfig hin und her, versuchte den lästigen Halm abzustreifen.

Was würde er fragen?

Wo ich in der Brandnacht gewesen war?

Oder fragte so einer gleich, ob ich es getan hatte?

Sah er einem an, wenn man log?

Es war nicht so gewesen, wie alle anderen vermuteten. Sylvie glaubte es nicht. Tante Lene glaubte es nicht. Jumbo wollte es nicht glauben. Und Mutter wußte von alledem nichts...

Jetzt! Jetzt tauchte er auf: Kopf und Schultern sah ich, alles andere verdeckte Tante Lenes Wall.

Rechts? Links? Geradeaus...?

Links!

Nach links bog er ab, kam auf mich zu. Damit hatte ich am wenigsten gerechnet. Was wollte er? Doch durch die

Hintertür zu uns? Mich konnte er nicht sehen; dazu hätte er Radaraugen haben müssen.

Er kam näher.

Blieb stehen.

Stellte Koffer und Aktentasche ab. Drehte unserem Haus den Rücken zu, betrachtete Tante Lenes windschiefe Kate. Jetzt fehlte nur noch, daß er ein Foto schoß, wie acht von zehn Feriengästen.

Was hatte das zu bedeuten? Tante Lene! Plötzlich stand sie vor der Tür.

Der Mann nahm Koffer und Aktentasche auf, ging auf sie zu, lüftete den Hut...

Der Wind trug mir zu, was sie redeten. Teufel! Ich träumte doch wohl nicht?

Er sollte bei ihr wohnen...

Ein Kriminalpolizist! Bei Tante Lene!

Ich drängte mein Gesicht noch weiter nach vorn. Das Reet kitzelte meine Backen. Ich mußte einen Niesreiz abwürgen. Theo Bank hieß er...

Kriminalobermeister war er...

Das hörte ich noch; dann schloß sich die Tür hinter den beiden.

Ich verstand das alles nicht. Tante Lene hatte mit Jumbo telefoniert? Den Mann in ihr Haus eingeladen? Warum tat sie das? Sie war doch sonst nicht so schnell mit den Einladungen bei der Hand!

Tante Lene war klug. Sie ließ sich auch von einem Kriminalbeamten nicht einwickeln. Im Mittelalter hätte man sie bestimmt als Hexe verbrannt — weil man anders nicht mit ihr fertig wurde. —

Drei Sachen mußte ich noch erledigen. Und von den drei Sachen konnten die Mathematikhausarbeiten am längsten warten.

Zuerst Sylvie.

Diesmal klopfte ich unser Zeichen an ihre Fensterscheibe. Sylvie war im Zimmer.

Sie öffnete das Fenster.

„Sei bloß leise“, empfing sie mich. „Jumbo stampft mit dickem Kopf in der Wohnung herum. Er fürchtet sich vor dem, was sein Kriminalkollege herausfinden könnte, glaub ich. Ist unruhig wie ein Tiger im Käfig, murmelt vor sich hin. Selbst Mutter kann ihn nicht beruhigen. — Gibt’s was Neues?“

„Ja. Ich weiß, wo der Mann wohnt. Halt dich fest: bei Tante Lene im Haus!“

„Ich werd verrückt!“

„Wäre ich auch fast geworden, als ich das Gespräch vom Reethaufen aus mithörte“, sagte ich. „Aber dann dachte ich: Wer weiß, wofür es gut ist. So kann ich ihn besser beobachten.“

„Und er dich! Vergiß das nicht“, erinnerte Sylvie mich. „Du, Mark, wir müssen uns unbedingt morgen treffen.“ „Deshalb bin ich ja hergekommen: morgen um drei am Findling!“

Unser Treffpunkt war der große Findling am Süderhaff — aus mehreren Gründen ein idealer Platz. Wir mußten mit dem Rad hinfahren. Dafür waren wir dort draußen allein. Höchstens ein paar Schafe starrten uns mit gelangweilten Gesichtern nach. Ich durfte nicht vergessen, nach dem Tidenkalender zu schauen...

„Ich werde da sein. Moment... Schnell, verschwinde! Ich höre Jumbos Schritte. Oder möchtest du mit ihm reden?“

„Fällt mir nicht ein!“ sagte ich und war mit vier Schritten um die Hausecke herum.

Ich machte kein Licht im Zimmer an.

Drüben bei Tante Lene war die ganze Fensterreihe erleuchtet. Im Gästezimmer — in seinem Zimmer brannte Licht!

Vom Dachboden bis zum Keller kannte ich dort drüben jeden Winkel und jedes Möbelstück, kannte mich ebensogut aus wie in unserem eigenen Haus.

Jetzt ging im Gästezimmer das Licht aus. Tante Lenes Fenster wurden dunkler: Sie hatte die elektrische Lampe ausgeknipst und saß nun bei Petroleumlampenschein. Das tat sie oft, wenn sie nicht gerade lesen wollte.

Ich stützte die Ellenbogen auf die Fensterbank und stellte das Fernglas ein. Würde Kriminalobermeister Bank ausgehen? Oder wollte er mit Tante Lene sprechen?

Seine Fenster blieben dunkel. Zum Schlafengehen war es noch zu früh. Fünf Minuten wartete ich, das Glas vor den Augen. Aber er tauchte nicht in der Haustür auf. Also saß er bei Tante Lene in der Wohnstube. Sehen konnte ich die beiden nicht; ihre Petroleumlampe verbreitete nicht genug Licht.

Ich konnte mich an die Arbeit machen.

Ich zog meine Vorhänge zu, schaltete die Lampe ein. Am besten, ich erledigte es auf einem Zeitungsblatt...

Mutter saß in der Wohnstube vor dem Fernseher.

„Bist du mit deinen Schularbeiten fertig?“ fragte sie.

„Bin gerade beim Rest“, antwortete ich. „Mathematik — muß ein paar Dreiecke konstruieren. Ich will lieber eine Zeitung unterlegen. Die Ausziehtusche schmiert so.“ Das war eine ziemlich lahme Erklärung. Aber Mutter prüfte sie bestimmt nicht nach. Mutter hatte viel für Sauberkeit übrig. „Ist gut“, sagte sie. „Laß es nicht zu spät werden.“

Ich breitete ein Doppelblatt auf meinem Tisch aus und legte das aufgeklappte Bordmesser daneben. Dann schloß ich die Tür ab. Falls Mutter an die Klinke fassen sollte, konnte ich immer noch sagen, ich hätte den Schlüssel gedankenlos herumgedreht.

Vom obersten Bücherbord langte ich mir die Vase herunter und schüttelte die große, halbe Kartoffel auf das Papier. Sie war verschrumpelt, kurz vor dem Verfaulen, fühlte sich gummiartig an. Die Schnittebene wölbte sich nach innen, und das schmutzig-rötliche Etwas war kaum mehr als Hahn zu erkennen. Der Druckstempel für den dritten und letzten Hahn! Es war ein schlechter Hahn — schlecht, weil ich ihn fabriziert hatte. Sylvie konnte es besser. Warum hatte ich den Stempel überhaupt aufbewahrt? Ich wußte es nicht mehr. Ich wußte nur, daß ich ihn mir jetzt schnell vom Hals schaffen mußte! Und die Karte mußte auch verschwinden! Ich zog den Duden aus der Bücherreihe heraus, ließ von hinten die Seiten durch die Finger rieseln, bis ich bei H den Hahn fand. Die Karte lag zwischen den Seiten „Hahn“ und „Hammer“ — genau dort, wo ein Hahn hingehört. Die Zeit für Späße war vorbei. Die Karte mußte den gleichen Weg gehen wie die Kartoffel.

Und die Kartoffel zerschnitt ich in kleine Würfel. Aus der Karte mit Sylvies rotem Hahn machte ich Schnipsel. Dann trug ich das Häufchen auf der Zeitung in die Toilette, schüttete auch die letzte Krume ins Becken, spülte zweimal nach.

Jetzt konnte Herr Bank gern kommen und mein Zimmer durchsuchen. Rote Hähne gab es bei mir nicht mehr.

Ich hätte es auch anders machen, die Karte verbrennen und die Kartoffel im Garten verscharren können. Vielleicht wären neue Kartoffeln draus geworden — auch halbe Kartoffeln treiben oft aus. Aber so hatte ich alles in einem Arbeitsgang erledigt.

Morgen mußte ich Sylvie davon erzählen. Sie hatte ein Recht darauf: Sie hatte nämlich den roten Hahn entworfen, ihn mit ihren geschickten Fingern in die Kartoffel geschnitten und die Karten gestempelt.

Sylvie wollte überhaupt alles von meinen nächtlichen Abenteuern erfahren. Jede Kleinigkeit mußte ich ihr berichten: wie die Blätter raschelten... Ob eine Katze miaut hatte... Wen ich alles gesehen hatte... Ob mein Herz klopfte, wenn ich mich vor einer plötzlich auftauchenden Gestalt hinter den nächsten Wall werfen mußte... Nicht selten erfand ich noch etwas dazu, schilderte alles unheimlicher und aufregender, als es sich in Wirklichkeit zugetragen hatte. Aber um nichts in der Welt hätte ich sie überreden können, mit mir in Hageldorns Kastanie zu steigen. Ihr erzählte ich gern... Sie rückte nahe an mich heran...

Vielleicht tat ich es doch nicht nur aus Rache — auch Sylvie zuliebe war ich nachts unterwegs.

Bei der Idee mit dem roten Hahn hatte Sylvie zuerst Bedenken gehabt. „Mark“, sagte sie, „das ist... Droht man dann nicht mit Feuer? Du willst doch nicht Sönderups Haus anstecken?“

„Ich will ihm Angst einjagen — richtige Angst! Weiter nichts“, erklärte ich ihr.

Dann brannte Peter Sönderups Haus, und er kam in den Flammen um. Gleich danach mußte ich Sylvie schwören, daß ich es nicht getan hatte. Sie glaubte mir. Aber sie ahnte nicht, in welcher teuflischen Klemme ich wirklich steckte. Der rote Hahn entstand auf dem Wasser in meinem Boot. Nach Vaters Tod war es mein Boot geworden. Wir ankerten hart an der zweiten Muschelbank, draußen, wo der Priel die lange S-Kurve ansetzte. Sylvie hatte an alles gedacht. In einer Plastiktasche brachte sie Bleistift, Messer, Tuschkasten, Pinsel und eine Ladung ausgesucht großer Kartoffeln mit. Und weiße Karten — Karten aus dem Haus eines Polizisten! Gut, daß es die Leute in Tarrafal nicht wußten. Dann war einige Zeit nicht mehr mit ihr zu reden. Sie schnippelte, mischte feuerrote Farbe, pinselte, machte Probedrucke, schüttelte unzufrieden den Kopf — nahm eine neue Kartoffel. Drei Kartoffeln brauchte sie, bis ihr der Hahn gelungen erschien.

Ich wartete auf die Ebbe.

Ich hatte noch etwas anderes vor.

Sylvie stempelte drei Karten mit je einem roten Hahn. „Mehr bekommst du nicht“, sagte sie. „Und ich will wissen, wo jede einzelne bleibt!“ Die restlichen Kartoffeln und die drei Stempel warfen wir über Bord, und sie wurden sofort vom Wasser verschluckt. Der Ebbstrom nahm sie mit hinaus, wühlte sie in den Schlick ein, oder noch wahrscheinlicher kriegten die verfressenen Wollhandkrabben sie zwischen die Scheren.

Morgen mußte ich Sylvie noch beibringen, daß ich selber noch einen Hahn geschnitten und gedruckt hatte, weil ich eine von ihren Karten aufbewahren wollte. Ich hätte mir die Arbeit sparen können — jetzt hatte ich Sylvies Hahn doch vernichtet.

Mein Segelboot ging flach, und wir waren so rechtzeitig losgefahren, daß wir noch an unseren Ankerplatz rutschen konnten, bevor uns das Wasser unter dem Kiel weglief. Die Ebbe hatte bald den Meeresboden freigegeben, und aus einer weiten Wasserfläche wurden Flüsse, Bäche und Rinnsale, zwischen denen es gelblich und dunkelblau emporwuchs. Die Sände streckten ihre sandigen oder muschelbewachsenen Rücken heraus. Wir konnten nach den Aalröhren schauen. Ja, Aalröhren — nicht Aalreusen! Das hört sich geheimnisvoll an und ist wohl auch für die meisten Leute ein Geheimnis. Ich habe noch nicht gehört, daß woanders als auf unserer Insel die Aale auf so raffinierte Weise gefangen werden. Dabei ist es bequemer als mit Netz oder Wurm. Das Steilnetz hängt nach jeder Tide voller Wollhandkrabben, die man mühsam herauspulen muß, weil die Biester ihre Scheren und Spinnenbeine durch die engsten Maschen stecken. Aalröhren sind nichts anderes als alte, ausrangierte Ofenrohre. Und das ganze Geheimnis besteht darin, daß man die Gewohnheiten des Aals zum Fang ausnützt und die Rohre an die richtigen Stellen zu legen versteht. Sie dürfen nicht trockenfallen; auch bei Ebbe müssen sie noch genügend Wasserdeckung haben. Und man muß die Stellen markieren, damit man seine Rohre wiederfindet. Ich tat das mit einem kräftigen, oben gegabelten Weidenast, den ich tief in das Watt hineinrammte. Der Aal kriecht gern in alle Löcher hinein — besonders der große Aal. Darum sucht er sich auch in den Röhren einen Standplatz, zu dem er immer wieder zurückkehrt, und wenn ein Aal weggefangen wird, zieht der nächste ein. Manchmal hat ein Rohr sogar zwei Bewohner. Schwieriger wird es, ihn aus dem Rohr zu holen. Man muß ganz behutsam einen Kescher ins Wasser tauchen und den Drahtring eben über die Öffnung streifen. Mit der anderen Hand tastet man sich von der Mitte aus leise an den oberen Rand der anderen Öffnung — packt blitzschnell zu und kippt das Rohr hoch! Wenn man seinen Kescher richtig gehalten hat, windet sich ein Aal im Netz. Oder nicht — wenn keiner drinnen war.

Unser Eimer wurde halbvoll. Ein guter, wenn auch nicht glänzender Fang. Die dicksten Burschen griff ich später mit der Aalschere heraus und gab sie Sylvie mit. Jumbo aß für sein Leben gern Aale. Nur fangen mochte er sie nicht. Ich hätte ihn ohnehin nicht mit auf Fangfahrt genommen. Sein Gewicht von über zwei Zentnern vertrug mein kleines Boot nicht.

Die Sache mit den Pfeilen und den nächtlichen Schüssen muß ich genau beschreiben; denn wäre ich nicht so stur und pinselig in meinen Vorbereitungen gewesen, hätte man mich erwischt oder sonst was wäre schiefgegangen.

Mit den Pfeilen hatte ich Schwierigkeiten. Ich probierte einige Zeit herum, bis ich die richtige Länge, den Platz für die Rote-Hahn-Karte — überhaupt die Machart herausfand. Aber es mußte sein. Meine Pfeile sollten gut in der Luft liegen und ihr Ziel erreichen. Als Spitze feilte ich einen Nagel scharf an, drückte ihn in das Schilfrohr und leimte ihn mit Uhu-hart fest. Das Schilf zog ich aus Tante Lenes Stapel. Mit dem Bogen machte ich keine großen Umstände: ein frischgeschnittener Weidenstock und etwas Angelsehne genügten. Zwei Kerben am Stock, ein Sehnenende festgebunden und das andere zu einer Schlinge geknotet, so daß ich den Bogen schnell spannen und entspannen konnte. Meine Schießübungen erledigte ich am menschenleeren Süderhaff. Vom Flutsaum klaubten wir — Sylvie begleitete mich — Seetang zusammen, schichteten es zu einem großen Haufen auf, der mir anstelle eines Daches als Ziel dienen sollte. Sorgfältig schritt ich die Entfernung ab, auf die ich später schießen mußte. Während ich übte, schaute Sylvie von Zeit zu Zeit über die Deichkrone, um uns vor Überraschungen zu sichern. Mit gewöhnlichen Pfeilen zu schießen war keine Kunst und hätte auch keine besonderen Übungen erfordert. Die im Pfeil eingeklemmte Karte brachte Schwierigkeiten mit sich. Aber ich fand den Trick dann doch heraus: Man mußte mit senkrecht gehaltenem Bogen schießen, die Karte genau parallel zum Stock ausrichten, die Hand tief unter dem Pfeil ansetzen, den Daumen nach oben...

Dann wartete ich auf eine windstille Nacht, damit mein Pfeil nicht aus der Flugrichtung abgedrängt wurde.

Diese Nacht kam.

Ich legte mir alles zurecht. Ich löste die Schlaufe vom Bogen, richtete den Stock wieder gerade; denn ein gespannter Bogen ließ sich schlecht verbergen. Eine Reservesehne wickelte ich auf ein Pappstück, Stock und Pfeil drehte ich zusammen in Packpapier ein. Die Rote-Hahn-Karte brachte ich in der Brusttasche meines Anoraks unter. Das lange Bündel schob ich stramm unter die Achselhöhle und drückte es mit dem ausgestreckten Arm leicht an meine rechte Körperseite. So machte ich mich auf den Weg. Halb zwölf zeigte meine Uhr, als ich über Hageldorns Wall schaute. Ringsum waren die Fenster dunkel. Die Stunde war richtig abgepaßt; schließlich hatte ich die Zubettgehzeiten in dieser Dorfecke lange genug studiert. Meine Handgriffe tat ich besonnen und ohne Eile. Ich wickelte mein langes Paket aus, faltete das Papier zu einem handgroßen Ballen, schob ihn tief in die Gesäßtasche, schloß den Knopf. Man kann über meine sture Bedächtigkeit lachen, aber ich glaube, nur weil ich alles so genau plante und mich an meinen Plan hielt, erwischte man mich nicht. Ich spannte den Bogen, schob die Karte in den Pfeil und lehnte dann Bogen und Pfeil an den Stamm der Kastanie, um mir einen geeigneten Abschußplatz auszusuchen. Ich fand ihn: Oben auf dem Wall, drei Meter links von der Kastanie, kam mir der lange Ast nicht in die Schußlinie, und ich konnte mein Ziel, die Giebelecke, in gerader Richtung anvisieren. Ich klemmte mich zwischen die Heckenrosen, suchte einen sicheren Stand, legte den Pfeil auf die Sehne, lauschte einen Augenblick gebückt, ob nicht doch irgendwo Schritte knirschten. Dann hob ich den Bogen, richtete die Karte aus, zielte... ließ los! Die Sehne zirpte leise, und ein bleiches Irrlicht segelte über die Straßenbreite, senkte sich, setzte sich auf Peter Sönderups Dach. Ich warf den Bogen nach hinten und schaute durchs Glas: Der Pfeil steckte einen Meter vom Giebel entfernt im Reet ein guter Schuß. Sönderup mußte eine Leiter anlegen, um ihn dort herunterzupflücken.

Vier Wochen wartete ich, bis ich den zweiten Pfeil schoß. Diesmal glückte der erste Schuß nicht — die Karte hakte, der Pfeil landete auf Sönderups Wall. Ich holte ihn mir und schoß von der Straße aus. Und eine Woche später steckte ich den dritten und letzten Pfeil mit der Hand in Sönderups Dach, um eine Panne zu vermeiden. —

Tante Lenes Petroleumlampe brannte immer noch. Und dort drüben saß er jetzt.

Der Kriminalobermeister... Der Mann im grauen Mantel...

Ich werde ihn „Graueule“ taufen, dachte ich.

Sylvie wird kichern...